"Systeme bauen und Geschichten erzählen" – Alex Chauvel im Interview

Nachdem zuletzt bereits Berliac vorgestellt wurde, folgt heute mit Alex Chauvel ein weiterer Comiczeichner, den es aus dem Ausland nach Berlin verschlagen hat. Alex stammt aus Frankreich, ich lernte ihn bereits während meiner Zeit bei Reprodukt kennen, wo er einige Monate die Produktionsabteilung unterstützte (was er auch weiterhin noch macht). Nach einem Studium der Philosophie, Literatur und Geschichte schloss er eine Ausbildung an der Ecole Européenne Supérieure de l'Image in Angoulême an. Mit einigen Kommilitonen gründete er Éditions Polystyrène, hier erscheinen bis heute seine eigenen Comics.

Alex' früheres Studium zeigt sich in seinen Comics, in denen durchgehend erzählte Geschichten mit klassischer Dramaturgie weniger im Mittelpunkt stehen, als verspielte Elemente, die Form und Inhalt seiner Arbeiten bestimmen, sowie ein Interesse an Landkarten und Geschichtlichem. So besteht seine Comic-Biografie aus vier ausfaltbaren Bögen, die die unterschiedlichen Lebensstationen des Protagonisten in den Mittelpunkt stellen. In der Anthologie wurde jede Seite gewissermaßen doppelt bedruckt – durch farbige Folien, die den zwei Druckfarben entsprechen kann jeweils eine (Erzähl-)Ebene herausgefiltert werden. Im letzten Jahr erschien der in Zusammenarbeit mit Rémi Farnos entstandene Comic , dessen 200 Einzelpanels auf Karton gedruckt wurden und sich in unendlich vielen Variationen aneinanderlegen lassen.

Zwei Projekte stehen vor ihrer Veröffentlichung: wird ein 4,5 Meter langer Leporello, der in Angoulême vorgestellt werden soll. Der 6.000 Panels umfassende Improvisationscomic "Todd" wird Chauvels erster Comic, der nicht bei Éditions Polystyrène veröffentlicht wird. Nebenbei veröffentlicht er noch den wöchentlichen Online-Comic "Hardtmuth et Snorri" um die Abenteuer zweier Steinzeitmenschen. Alex Chauvels Arbeiten wurden im vergangenen Jahr in der Berliner Galerie Neurotitan in der Gruppenausstellung "Yes, we´re open" gezeigt, es bleibt zu hoffen, dass das nicht die einzige Ausstellung bleibt: Es gibt viel zu sehen. Eine Kurzgeschichte von Alex Chauvel findet sich übriges im deutsch-französischen Comic-Zine .

Was hat Dich nach Berlin verschlagen? Dein Beruf? Die Comic-Szene? Die Liebe?
Während meines Studiums haben ich einen Erasmus-AUfenthalt in Hamburg gemacht. Dort habe ich meine Freundin und den Reprodukt Verlag kennengelernt. Ich dachte dann, dass ich nach meinem Abschluss nach Deutschland ziehen könnte. In Berlin habe ich dann bei Reprodukt ein Praktikum gemacht, um etwas mehr deutsch und Profi-Verlags-Skills zu lernen (was mir danach bei Polystyrène geholfen hat).

Gleich zwei Projekte von Dir warten auf ihre Veröffentlichung: "Toutes les mers par temps calme" und "Todd". Kannst Du etwas zu beiden erzählen?
Beide Projekt sind sehr unterschiedlich, aber auch komplementär. "Toutes les mers par temps calme" (siehe Abbildung links, Leseproben ganz unten) ist wirklich ein Zeichnungs-Projekt, und ein Objekt-Buch (es wird ein 4,5 Meter langer Leporello, siehe links weiter unten). Es gibt dabei keinen Text und ich versuche an der Idee "Was sind die verschiedenen Wege, Bilder zu lesen – ist es ein Schema wie eine Karte, oder eine Comic-Sequenz?" zu arbeiten. "Todd le géant s'est fait voler son slip" (siehe s/w-Abbildung links, Leseprobe in der flickr-Galerie) ist eher ein Geschichten-Projekt. Ich wollte mich nicht mit komplizierten Zeichnungen reizen, also habe ich es einfach begonnen, und wollte nur sehen, ob ich eine improvisierte Geschichte mit 6.000 (6.001 eigentlich) Panels erzählen konnte. Das wird mein erstes Buch sein, das nicht bei Polystyrène veröffentlich wird, ich bin gespannt.
Aber als die zwei Projekte, die eigene Wege suchen, wie man etwas erzählen kann, sind sie verbunden, und ich habe bei jedem viel gelernt.

Geschichten erzählen und mit der Form spielen, Spaß haben – stehen diese Aspekte also im Mittelpunkt, wenn Du Comics machst?
Ich mag beides, Systeme bauen und Geschichten erzählen. Ich langweile mich sehr schnell, also muss ich etwas anders probieren. Aber gleichzeitig bin ich an Wissenschaft interesiert und jedes Projekt ist wie eine Erfahrung: Du hast deine Frage, du machst eine Hypothese, du bildest dein "experimentelles Werkzeug", schaust, welche Erfahrung Du sammelst und machst eine Erkenntnis. Wenn das nicht funktioniert, versuche ich die Gesetze ein bisschen zu ändern (es ist halt nicht total wissenschaftlich). Spaß kommt bei der Arbeit, und mit der Form spielen ist eher ein Weg als ein Ziel... zumindest habe ich das Gefühl.

Von außen scheint es so positiv in Frankreich: Sogar ein Verlag mit formal avancierten Comics schafft es dort, viele Leserinnen und Leser zu erreichen. Ist diese Einschätzung richtig?
Ich würde sagen, diese Einschätzung ist richtig. In Frankreich gibt es eine anerkannte Comic-Geschichte, mit Hergé, Pilote, Métal Hurlant, Futuropolis, l'Association, dem Aufstieg von Mangas... Für eine/n Franzose/in ist die Definition von "Comic" breiter und es ist deshalb einfacher zu akzeptieren, daß komische Objekte auch Comics sind. Ich würde sogar sagen, daß Polystyrène eben deshalb funktioniert, weil die Comics besonders sind. Es erscheinen jedes Jahr so viele Comics... (mehr als 5.000, mit Mangas und Neuauflagen) und viele sind einfach standardisiert... Wenn ein Buch so wenig konventionnel wie möglich ist, sticht es heraus. Und wir haben Geduld: In Frankreich muss ein Comic theoretisch in ein paar Wochen erfolgreich sein (zumindest in der großen Industrie), aber unser Rhythmus ist viel langsamer, und wir arbeiten nur mit unhabhängigen Buchhandlungen.

Du hast bereits an einer Ausstellung in der Berliner Galerie Neurotitan mitgewirkt. Gibt es in näherer Zukunft wieder eine Möglichkeit, Deine Arbeiten zu sehen? Kann man sie irgendwo kaufen?
Im Moment ist keine Ausstellung geplannt. Mal sehen wann "Toutes les mers par temps calme" veröffentlich wird [Dass die Leporellos zu Angoulême vorliegen werden, war zur Zeit des Interviews noch nicht absehbar. Anm. Ch.M.]. In Deutschland kann man meine Sachen nicht kaufen, ich muss die Bücher mal in ein paar Buchhandungen bringen. Aber es gibt natürlich die Möglichkeit, . Hmm... das klingt wie eine Aufgabe für 2016...

Wie nimmst Du die Comic-Szene in Berlin und Deutschland wahr? Oder ist das etwas, was Dich weniger interessiert?
Ich bin auf jeden fall interessiert, aber ich habe noch nicht viel aktiv gemacht. Ich muss zugeben, dass viel von meiner Energie 2015 in meine zwei Projekte ging, und auch in Polystyrène, von weit weg. Hamburg, Leipzig und Berlin haben coole, kleine Festivals, da würde ich gern einen Stand machen, vielleicht wird das mit einem wortlosen Buch einfacher. Ich muss auch nach Erlangen fahren, da war ich noch nie!

"Polychromie" mit einer nicht von Alex Chauvel gestalteten Seite.

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Abbildungen © Alex Chauvel – Éditions Polystyrène

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